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Tradition und Fortschritt verbinden

„Methodenstreit“ und Politikwissenschaft

Der methodologische Glaubenskrieg
am Beginn des 21. Jahrhunderts zwischen
szientistischem Establishment und phronetischen Perestroikans


 


4. Zusammenfassung: „Methodenstreit“ als Ausdruck einer Identitätskrise oder Zeichen von Vitalität?

   

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Vorwort

Inhaltsverzeichnis
Schaubilder
Literaturverzeichnis

Inhalte

Einleitung
2. Kapitel
3. Kapitel

Zusammenfassung
Ausblick

 

 

Der „Methodenstreit“ oder der methodologische Glaubenskrieg innerhalb der Politikwissenschaft am Beginn des 21. Jahrhunderts wurde in dieser Abhandlung exemplarisch dargestellt. Die Einleitung begann mit einigen Überlegungen über die Bedeutung der Methodologie, in der Zusammenfassung soll auch der Frage nachgegangen werden, ob der Methodenstreit Ausdruck einer Identitätskrise oder ein Zeichen von Relevanz und Vitalität ist.

Im Folgenden werden die wichtigsten Begrifflichkeiten, Defizite und Streitpunkte im „Methodenstreit“ zusammengefasst (4.1) und danach die wichtigsten Annahmen der Kontrahenten vorgestellt (4.2). Eine angemessene Erörterung der unterschiedlichen axiologischen, epistemischen, methodologischen und ontologischen Voraussetzungen ist nur auf zehn Ebenen möglich (4.3). Die Schlussfolgerungen für eine praktische (normative, pragmatische und technische) Methodologie werden extra zusammengefasst (4.4), danach werden einige Schlussfolgerungen zur Relevanz und Vitalität methodologischer Forschung angeführt (4.5). Die Zusammenfassung beenden einige Bemerkungen zur Komplementarität der verschiedenen Methodologien, bevor im Ausblick dann eine logische Geographie politikwissenschaftlicher Methodologie aufgezeigt wird (4.6).


4.1 Begrifflichkeiten, Defizite und Streitpunkte des „Methodenstreits“. Die unerwünschten Kollateralschäden Kuhn’scher Revolutionsmetaphorik Seitenanfang


4.1.1 Methodologische K(r)ämpfe: polarisierender Glaubenskrieg seit dem Entstehen der Sozialwissenschaften bis heute Seitenanfang

Die polarisierende Vorgehensweise, wenn es um methodologische Fragen innerhalb der Sozialwissenschaften geht, unterscheidet sich sehr deutlich und unvorteilhaft von Aristoteles’ Herangehensweise. Nicht nur die Wörter „Methodenstreit“ oder „Positivismusstreit“ (Adorno 1976, Falter 1982, Keuth 1989, Topitsch 1967), ganz zu schweigen von „science war“ (Flyvbjerg 2001: 1), zeugen davon, sondern viele Beiträge dokumentieren ein Aneinandervorbeireden, wie es in anderen Spezialgebieten der Politikwissenschaft nicht annähernd zu finden ist. „Methodenstreit“ ist wie „Kindergarten“ eines der wenigen deutschen Fremdwörter, die den Weg in die englische Sprache gefunden haben. Methodologische Auseinandersetzungen als „Streit“ zu kennzeichnen, ist ein Mittel, diese auch in der Politikwissenschaft zu diskreditieren. Kinder streiten, Erwachsene arbeiten seriös an Inhalten. Weitere negative Phänomene kommen noch hinzu: Ignoranz gegenüber methodologischen Fragen und eine „just do it“-Pragmatik. Alles zusammen befeuert auch einen polarisierenden Glaubenskrieg seit dem Entstehen der Politikwissenschaften bis heute.


4.1.2 Misslungene Reduktion von Komplexität: Kuhn versus von Wright und Lakatos Seitenanfang

Der methodologische Glaubenskrieg wird auch durch revolutionäre Begrifflichkeiten bedingt. Die Beliebtheit der Kuhn’schen Revolutionsmetaphorik ist darauf zurückzuführen, dass sich einige Wissenschaftler als Revolutionäre verstehen, die unbedingt ihr Paradigma durchsetzen wollen, koste es, was es wolle. Dies führt zu sehr vielen Kollateralschäden, die eigentlich aufgrund des selbstgegebenen, wissenschaftlichen Kodexes nicht zu erwarten wären.

Thomas Samuel Kuhn (1976 [1962]) hat seine Begrifflichkeit am Beispiel der Physik entwickelt, und zwar um die kopernikanische Wende innerhalb der Physik wissenschaftstheoretisch zu beschreiben. Diese Begrifflichkeit ist indes nicht dazu geeignet, die methodologischen Entwicklungen innerhalb der Politikwissenschaft zu beschreiben, ja mehr noch, sie führt zu Missverständnissen und wirkt wie ein Brandbeschleuniger. Es wird suggeriert, dass es zu Revolutionen oder Wenden gekommen ist, die eine völlige Neujustierung nach sich zogen und die darüber hinaus inkommensurabel seien. Francis Bacon (1990 [1620]) war der Erste, der für eine Revolution mit seinem Novum Organum warb. Die phronetischen Perestroikans tun dies am Beginn des 21. Jahrhunderts. Es gab seit Aristoteles’ Organon viele Innovationen innerhalb der Methodologie, eine Tabula rasa ergab sich dabei niemals. Die alten Methodologien wurden nach wie vor verwendet, genauso wie die neuen.

Die vielen Missverständnisse, die zum „Methodenstreit“ führten und ihn vor allem so kontraproduktiv machen, rühren daher, dass wissenschaftstheoretische (axiologische, epistemologische, methodologische und ontologische) Fragen miteinander zusammenhängen und dass dies nicht ausreichend berücksichtigt wird. Weiterhin wird bei der Gegenüberstellung von Naturalismus und Anti-Naturalismus vor allem mit statischen Thesen operiert sowie das ockhamsche Rasiermesser sehr schwungvoll eingesetzt, womit man weder die Komplexität noch die Dynamik der methodologischen Entwicklung einfangen kann.

Die Begrifflichkeit von Kuhn ist nicht nur in methodologischen Fragen in der Politikwissenschaft allgegenwärtig. Robert Edward Goodin (2011b [2009]: 13) spricht von mehreren Revolutionen innerhalb der amerikanischen Politikwissenschaft, dabei handelt es sich im Kern um die Einführung von neuen Methodologien. Daher ist es indes besser, von der Einführung von methodologischen Forschungsprogrammen zu reden. Diese haben weder existierende Forschungsprogramme vollständig verdrängt noch gibt es keinen Austausch zwischen Forschern, die verschiedene Forschungsmethodologien anwenden. Im Gegenteil, diese Methoden sind komplementär und werden teilweise von ein und demselben Wissenschaftler angewandt. Kurz gesagt, Komplementarität, vor allem aber ein Nebeneinander statt Miteinander von Methodologien und nicht Inkommensurabilität sollte das methodologische Feld kennzeichnen. Daher ist die Begrifflichkeit von Georg Henrik von Wright (1974 [1971]) neben der von Imre Lakatos (1982 [1978]) besser geeignet, wenn man die Entwicklung der Methodologie von der Antike bis heute rekonstruieren will.


4.1.3 Aneinandervorbeireden durch Ignorieren und/oder Verzerren Seitenanfang

Der „Methodenstreit“ am Beginn des 21. Jahrhunderts hat mit dem Positivismusstreit des 20. Jahrhunderts (Adorno et al. 1976 [1969], Falter 1982) gemein, dass die Kontrahenten aneinander vorbeireden oder die Position der anderen verzerrt darstellen, sofern diese nicht schon von vornherein ignoriert wird.

Die Kritik geht am Beginn des 21. Jahrhunderts von den Perestroikans aus, diese basteln sich, salopp ausgedrückt, einen Pappkameraden, den sie dann leicht zur Strecke bringen können. Es fehlt, wie dies vor allem in der geisteswissenschaftlichen Tradition üblich ist, eine Ad-fontes-Rekonstruktion anhand von originalen Quellen. Statt einer lückenlosen genetischen Rekonstruktion wird nur ein oberflächliches intellektuelles Porträt formuliert. Dies geschieht dadurch, dass die positivistische Position möglichst mit Hilfe von einer Handvoll Thesen, Moses und Knutsen (2012 [2007]: 48) kommen mit drei aus, Schram (2003: 836) mit sieben, dargestellt wird. Übrig bleibt kein Idealtypus, sondern ein Pappkamerad. Damit wird man der Leistungsfähigkeit der sehr differenzierten und spezialisierten logisch-mathematischen Forschungsmethodologie, die das szientistische Establishment vertritt, nicht gerecht. Was noch bedauerlicher ist, die vielen Kritikpunkte, die diese Methodologie völlig zu Recht verdient, werden zugeschüttet. Kurz gesagt: Die Kritik der Perestroikans zeichnet sich negativ durch Verzerren aus. Demgegenüber fällt das szientistische Establishment dadurch negativ auf, dass es die sprachlich-interpretative Forschungsmethodologie fast vollständig ignoriert, bestenfalls in Fußnoten wird auf deren Existenz hingewiesen (Goodin 2011a [2009], Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010a [2008], Goertz/Mahoney 2012).


4.1.4 Macht- und Ressourcenorientierung (Power- and Money-drivenness) des „Methodenstreits“ Seitenanfang

Der Kampf um Ressourcen wie Macht innerhalb von wissenschaftlichen Organisationen, Geld für Forschung, Publikationsmöglichkeiten, Stellen an Universitäten, kurz die Macht- und Ressourcenorientierung power- and money-drivenness, hat den methodologischen Glaubenskrieg seit Entstehung der amerikanischen Politikwissenschaft befeuert. Dass solche wissenschaftsexternen Auseinandersetzungen auch Einfluss auf die Organisation von wissenschaftlichen Organisationen bis hin zu wissenschaftlichen Ergebnissen haben, wird seit den Arbeiten von Thomas Samuel Kuhn kaum noch bezweifelt. Macht- und Ressourcenorientierung haben die methodologische Diskussion auf eine sehr kontraproduktive Art und Weise beeinflusst: Aneinandervorbeireden, Ignorieren, pluralistischer Habitus und reduktionistische Praktiken sind einige der bevorzugten Mittel.


4.2 Kontrahenten im Glaubenskrieg: Szientisten der platonisch-galileischen Tradition versus phronetische Perestroikans innerhalb der aristotelischen Tradition Seitenanfang

Seit der Etablierung der Politikwissenschaft als Fach am Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA gibt es eine Trennung zwischen stringenten Politikwissenschaftlern (disciplined political scientists) und politischen Theoretikern (happily still undisciplined political theorists). Dieser Streit dauert bis heute an und entflammt in Abständen von einigen Jahrzehnten. Den im 19. Jahrhundert entstandenen „Methodologiestreit“ gibt es nach wie vor. Aufgrund der vielen rationalen Defizite dieses wissenschaftlichen Diskurses handelt es sich eher um einen methodologischen Glaubenskrieg als um eine wissenschaftliche Kontroverse. Da es nicht nur um eine Auseinandersetzung um verschiedene Methoden (quantitative oder qualitative) geht, sondern Differenzen auf zehn methodologischen Ebenen identifiziert werden können, wäre auch die Bezeichnung „Methodologiestreit“ geeigneter. Im Folgenden werden die Positionen der Kontrahenten am Beginn des 21. Jahrhunderts zusammengefasst (3. Schaubild und 4. Schaubild).

Hier stehen sich, wenn es um empirische Forschung geht, einerseits der Mainstream, wie wir sehen werden eher das szientistische Establishment, mit einer logisch-mathematischen Forschungsmethodologie, und andererseits die Perestroikans mit einer sprachlich-interpretativen Forschungsmethodologie gegenüber. Wenn es um praktische Forschungen geht, bevorzugt das Establishment eine angewandte, technische Methodologie, genauer einen normativen Rationalwahltheorie (Hardin 2011 [2009]), die Perestroikans wollen hingegen mit einer applied phronesis (Flyvbjerg/ Landman/Schram 2012a), angewandten Klugheit, die Sozialwissenschaften revolutionieren und dazu beitragen, dass diese wieder mehr öffentliche Relevanz zukommt.

Zwischen empirischen und praktischen Wissenschaften gibt es einen strukturellen Unterschied (2. Schaubild). Wichtig ist, dass eine reduktionistische Vorgehensweise die hier gestellten Fragestellungen nicht in den Griff bekommt; insbesondere ein praktischer Diskurs, sowohl ein normativer, pragmatischer als auch ein technischer Diskurs, ist damit nicht adäquat zu bewältigen. Sehr wohl können aber empirische Aussagen über Normen und Werte gemacht werden (z.B. Werte als Objekt der Wissenschaft), weil Aussagen über Normen keinen genuin praktischen Diskurs benötigen.


4.2.1 Die Szientisten oder die platonisch-galileische Tradition innerhalb der Politikwissenschaft Seitenanfang

Die Szientisten (Positivisten, Naturalisten) innerhalb der Politikwissenschaft
wollen sich mit der Orientierung an den Naturwissenschaften sowie der Einführung einer logisch-mathematischen Forschungsmethodologie von den humanistischen Traditionen absetzen. Dabei werden eigene axiologische, epistemische, methodologische und ontologische Grundlagen vorausgesetzt (A). Geforscht wird mit einer logisch-mathematischen Forschungsmethodologie (B). Entgegen weitverbreiteten Annahmen zeigen quantitative Untersuchungen, dass nur eine Minderheit aller Politikwissenschaftler sich der platonisch-galileischen Tradition verpflichtet fühlt und Kausalstudien verfasst. Da es sich um eine sehr einflussreiche Minderheit handelt, spreche ich vom szientistischen Establishment (C).

A. Axiologische, epistemische, methodologische und ontologische Voraussetzungen: kausaler, empirischer und methodologischer Reduktionismus

Die Suche nach unsichtbaren Kausalitäten ist der rote Faden, der die platonisch-galileische Tradition zusammenhält – Kausalität, die nach allgemeiner Überzeugung unsichtbar ist, also nicht direkt beobachtet wird. Sichtbar sind nur ganz spezielle Beobachtungen (data-set observations und causal-process observations), die kausale Inferenzen ermöglichen. Alle methodologischen Innovationen (quantitative Methoden, Modelldenken, qualitativ-mathematische Methoden, Experimente) dienen einzig und allein dem Ziel, unsichtbare Kausalitäten zu identifizieren und damit erstens kausale Regularitäten zwischen verschiedenen Ereignissen (events) und zweitens kausale Prozesse bzw. konkrete Ursache-Wirkungs-Mechanismen zu erklären. Innerhalb der platonisch-galileischen Tradition wird also nur nach Kausalitäten gesucht, Kausalität ist die einzige Relation, die zählt, andere Relationen oder gar Sinnzusammenhänge interessieren nicht. Daher meine Bezeichnung kausaler Reduktionismus.

Kausalität ist die ontologische Voraussetzung schlechthin. Sie wird als das angesehen, was die Welt im Innersten zusammenhält („Daß ich erkenne, was die Welt/ Im Innersten zusammenhält“ (von Goethe, 1978 [1808]: 162 [382-383])) oder als Zement des Universums (Mackie 1974). Wer Kausalitäten identifiziert, kann die Welt erkennen und verändern. Beides ist nur möglich, weil es eine Äquivalenz zwischen Kausalität und Handeln gibt (Bacon 1990 [1620]: 80, 3. Aphorismus, Teilband 1). Nur unter dieser Voraussetzung kann man durch „Umkehrungen von Kausalsätzen“ (Weber 1973d [1917]: 529 [491]) oder durch „Umkehrung des fundamentalen Erklärungsschemas“ (Popper 1984 [1972]: 367) Erkennen (Theorie) in Handeln (Praxis), d.h. in Sozialtechnologie, umwandeln. Damit können Anweisungen oder Ratschläge als Teil einer angewandten (nicht praktischen) Politikwissenschaft nebenbei formuliert werden (Hardin 2011 [2009]). Dabei werden die ethisch-normativen sowie pragmatischen Dimensionen überhaupt nicht thematisiert, wie dies seit der Antike in der praktischen Philosophie oder der Politischen Philosophie gemacht wird. Allein eine halbierte, instrumentelle Vernunft (Horkheimer 1967 [1947]) ist hier am Werk.

Im Vordergrund der platonisch-galileischen Tradition innerhalb der Politikwissenschaft stehen also empirische Kausalanalysen, die seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts mit Hilfe von quantitativen Werkzeugen (Begriffen, Methoden und methodischen Ansätzen) sowie deduktiven und induktiven Argumentationsweisen erstellt werden. Seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts kommen logisch-mathematische Modellanalysen, in der Politikwissenschaft hauptsächlich Rational-Choice-Modelle und qualitativ-mathematische Methoden, seit den 90ern Experimente (in der Politikwissenschaft im Gegensatz zur Soziologie kaum Simulationen) hinzu (Braun/Saam 2015). Der methodologische Individualismus, eine weitere grundsätzliche Eigenschaft dieser Tradition, geht auf Thomas Hobbes (1996 [1651]), aber vor allem auf Maximilian Carl Emil Weber (Weber 1980 [1922]) und Friedrich August von Hayek (2004 [1943]) zurück und wird in der platonisch-galileischen Tradition einem Holismus vorgezogen (zur Kritik am Holismus sehr einflussreich Popper 1980a [1944], 1980b [1944] sowie 2003 [1957], Duhem 1978 [1906] und Quine 1979 [1953]).

Da auch liberale (Locke 1989 [1690]) und utilitaristische (Mill 1998 [1861]) Kategorien hinzukommen, kann man diese Great Revolution innerhalb der Methodologie bürgerlich-liberal nennen. Susanne Hoeber Rudolph spricht völlig zu Recht von einem „Lockean liberalism’s universalism“ (Rudolph 2005b). Liberalismus, Universalismus auf der einen Seite als normative Voraussetzungen und auf der anderen Seite kausaler und empirischer Reduktionismus, methodo-logischer Individualismus und Modellanalysen als methodologische Annahmen sind die versteckten Voraussetzungen (hidden assumptions), die in der Regel unreflektiert in empirische Forschungen hineinfließen. Forscher versuchen, wenn sie diese Annahmen nicht ausdrücklich erwähnen und berücksichtigen, mit einer logisch-mathematischen Forschungsmethodologie eine Objektivität vorzugaukeln, die bei näherer Betrachtung nicht vorhanden ist. Die Kontextbezogenheit oder die Wenn-Dann-Struktur des Wissens sollte immer berücksichtigt werden, am Besten wäre es, wenn man die Ceteris-paribus-Bedingungen expliziert.

B. Forschungsprogramme innerhalb der platonisch-galileischen Tradition statt „Revolutionen“ innerhalb einer „Great Revolution“: logisch-mathematische Forschungsmethodologie

Nach Goodin (2011b [2009]: 13) gab es innerhalb der amerikanischen Politikwissenschaft drei Revolutionen: erstens die Etablierung als Wissenschaft und die Orientierung an den Naturwissenschaften vor allem durch Einführung des kausalen und empirischen Denkens und von deduktiven sowie induktiven Argumentationsweisen, die Einführung von professionellen und systematischen Vorgehensweisen sowie die Etablierung des Faches an den amerikanischen Universitäten am Anfang des 20. Jahrhunderts. Danach kam in den 50er Jahren die zweite Revolution, „behavioral revolution“, die dritte Revolution, die „rational-choice-revolution“, fand schließlich ab den 70er Jahren statt.

Meiner Meinung nach besteht die szientistische Methodologie aus mehreren methodologischen Forschungsprogrammen (3. Schaubild und 6. Schaubild), die sich komplementär ergänzen und ständig weiterentwickelt werden:

  • a. szientistisches Forschungsprogramm (Orientierung an den Naturwissenschaften oder Etablierung als Wissenschaft)
  • b. kausaler Reduktionismus
  • c. quantitatives Forschungsprogramm
  • d. Modelldenken (Rationalwahlansatz)
  • e. qualitativ-mathematisches Forschungsprogramm f. experimentelles Forschungsprogramm

C. Verbreitung des Kausaldenkens innerhalb der Politikwissenschaft

Das Kausaldenken und die quantitative Methodologie dominieren nicht den Mainstream innerhalb der Politikwissenschaft, wie viele glauben, sondern, wie empirische Ergebnisse zeigen, nur das sehr einflussreiche bürgerlich-liberale Establishment insbesondere in den USA. Quantitativ gesehen, sind es nur 5 Prozent der Lehrstühle in den USA mit Szientisten besetzt. Kausalanalysen (causal thinking) sind mit weit weniger als 50 Prozent der Publikationen innerhalb der einflussreichen amerikanischen Zeitschriften repräsentiert (Brady/Collier/Box-Steffensmeier 2011 [2009]: 1036, Goodin 2011b [2009]: 13). Es sind aber trotzdem weitaus mehr als ein paar Ostküsten-Brahmanen („East Coast Brahmins“, Mr. Perestroika 2005 [2000]: 9), die ein Kausaldenken mittels quantitativ-mathematischer Forschungsmethodologie bevorzugen und laut den Perestroikans auch die American Political Science Association (APSA) dominieren (Monroe 2005).


4.2.2 Die phronetischen Perestroikans innerhalb der aristotelischen Tradition Seitenanfang

Die aristotelische Tradition ist wesentlich heterogener als die platonisch-
galileische Tradition. Zuerst werden die wichtigsten methodologischen Merkmale der Interpretivisten zusammengefasst (A), dann diejenigen der Perestroikans (B).

A. Sinnbildung (Sense Making, Meaning Making) oder Sinnverstehen mittels sprachlich-interpretativer Forschungsmethodologie: Sprache und qualitativ-interpretative Werkzeuge (Begriffe, Methoden und methodische Ansätze)

Kritik an der platonisch-galileischen Tradition hat es seit dem Entstehen der Sozialwissenschaften im 19. Jahrhundert gegeben und zwar unter Rückgriff auf die aristotelische Tradition und mit dem Verweis auf die Besonderheit der Geistes- oder Kulturwissenschaften, die sich nach Ansicht dieser Vertreter prinzipiell von den Naturwissenschaften unterscheiden (Dilthey 1922 [1883], Rothacker 1926, Rickert 1910 [1896], Bodammer 1987). Heterogen sind innerhalb der aristotelischen Tradition sowohl die empirischen als auch die praktischen Vorgehensweisen sowie die axiologischen Positionen. Diese Auseinandersetzung verlagerte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem auf die Methodenebene, so dass man quantitative von qualitativer Forschung unterschieden hat (Denzin/Lincoln 1994, Creswell 2013 [1998], Flick/von Kardorff/Steinke 2015 [2000], Blatter/Janning/Wagemann 2007). Seitdem innerhalb der methodologischen Auseinandersetzung wieder verstärkt wissenschafts-theoretische Positionen in den Vordergrund treten, läuft die Diskussion unter den Gegensatzpaaren Naturalismus versus Konstruktivismus (Moses/Knutsen 2012 [2007]) und insbesondere Naturalismus versus Interpretivismus (Yanow/Schwartz-Shea 2014 [2006], Rosenthal 2014 [2005], Bevir/Rhodes 2016a).

Die Konzentration auf die Erstellung von unsichtbaren kausalen Erklärungen und kausalen Prognosen reicht nicht aus. Bevor man eine kausale Relation zwischen Ereignissen (events) ermitteln kann, muss man diese Ereignisse beschreiben, dafür sind aber sprachlich-interpretative Methoden erforderlich (von Wright 1974 [1971]). Diese Methoden sind darüber hinaus notwendig, damit man die Bedeutung und den Sinn, damit den Sinnzusammenhang (context of meaning) der vielfältigen politischen Symbole (Texte, Audios, Bilder und Videos) überhaupt verstehen kann. Zweitens bedarf es einer qualitativ-interpretativen Methodologie zur Beschreibung von sichtbaren Ereignissen (Erscheinungen oder Phänomene), erst danach kann man unsichtbare Kausalitäten erklären.

Zur Erkenntnis der politischen Realität ist daher sowohl eine logisch-mathematische als auch eine sprachlich-interpretative Forschungsmethodologie notwendig, erst qualitativ-interpretative und qualitativ-mathematische Methoden ermöglichen ein adäquates empirisches (deskriptives, explanatives und prognosti-sches) Wissen (Beschreibungen, Erklärungen und Prognosen).

B. Die phronetischen Perestroikans: Spannungspunkte (Tension Points) und angewandte Klugheit (Applied Phronesis)

Ausgesucht wurden die Phronetiker innerhalb der Interpretivisten und speziell der Perestroikans, weil sie unter Rückgriff auf Aristoteles auch eine praktische Methodologie im Angebot haben. Das praktische Ziel der phronetischen Perestroikans ist, mit Hilfe einer angewandten Klugheit eine praktische Methodologie zu schaffen (Flyvbjerg/Landman/Schram 2012c: 285).

Unter Rückgriff auf die Arbeiten von Foucault (1971 [1966] und 1995 [1969]) wollen die phronetischen Perestroikans auch Machtanalysen durchführen und dabei Spannungspunkte (tension points) aufzeigen. Diese Spannungspunkte sollen dann im Interesse der Benachteiligten aufgelöst werden. Kluge Wissenschaftler könnten danach eine problemorientierte (problem-based, problem-driven) Politikwissenschaft mit Hilfe von Fallstudien, angewandter Klugheit (applied phronesis) sowie induktiven Argumentationsweisen sowohl die politische Realität beschreiben und erklären als auch Alternativen dazu entwickeln.


4.3 Die methodologischen Ebenen wissenschaftlicher Forschung Seitenanfang

Im dritten Kapitel ging es darum die Komplexität des „Methodenstreits“ sichtbar zu machen. Dafür wurden die axiologischen, epistemischen, methodologischen und ontologischen Fragestellungen auf zehn vertikalen und drei horizontalen wissenschaftstheoretischen Ebenen behandelt. Dies hat sich als ein adäquates Analyseraster herausgestellt. Man kann sowohl die Möglichkeiten als auch die Grenzen beider Methodologien nur dann adäquat behandeln, wenn man diese, wie hier geschehen, auf mehreren Ebenen diskutiert. Zwar findet nach wie vor eine Reduktion von Komplexität statt, aber immerhin konnte wenigstens ein Überblick über die wichtigsten Fragestellungen skizziert werden und konnten einige von den Kontrahenten gegebene Antworten erläutert werden, ohne dabei den Zeitpfeil und die damit verbundene Dynamik der Entwicklung aus dem Auge zu verlieren (1. Schaubild und 2. Schaubild). Damit konnten die strukturellen Unterschiede zwischen empirisch-deskriptiven, empirisch-explanativen und praktischen (normativen, pragmatischen und technischen) Methodologien auf zehn wissenschaftstheoretischen Ebenen nachgewiesen werden. Weiterhin konnte die Komplementarität zwischen empirisch-deskriptiven, empirisch-explanativen und praktischen (normativen, pragmatischen und technischen) Methodologien oder zwischen interpretativen, szientistischen und praktischen Methodologien aufgezeigt werden.


4.3.1 Wissenschaftstheoretische Ebene: axiologische, epistemische, methodologische und ontologische Voraussetzungen sowie Aufgaben und Grenzen wissenschaftlicher Forschung Seitenanfang

Auf der wissenschaftstheoretischen Ebene wurde die Bedeutung von axiologischen, epistemischen, methodologischen und ontologischen Grundlagen aufgezeigt. Folgende wichtige Grundlagen wurden ausführlich erläutert:

  • A. Sowohl Szientisten als auch Perestroikans sind an einer problemorientierten Forschung und an praktischen Ergebnissen interessiert.
  • B. Nur die Szientisten haben eine differenzierte und angemessene Kausalitätstheorie und entsprechende Methoden sowie methodische Ansätze, um diese auch nachzuweisen.
  • C. Drei der wichtigsten versteckten Annahmen lauten: Kausalität ist eine unsichtbare und verborgene Kraft, die die Welt im Innersten zusammenhält. Es gibt eine Äquivalenz zwischen Kausalität und Handlung. Umkehrung von Kausalsätzen oder Umkehrung des fundamentalen Erklärungsschemas ermöglicht die Generierung von sozialtechnologischen Regeln.

4.3.2 Wissensebene: allgemeine Bedingungen oder allgemeine (Kern)Kriterien des Wissens Seitenanfang

Arbeitsteilung und Spezialisierung enthalten zu Recht reduktionistische Methodologien. Die Wenn-dann-Struktur des Wissens macht es möglich und die Spezialisierung erfordert geradezu eine kleinteilige, reduktionistische Vorgehensweise. Wichtig aber ist, dass man die implizierten und unausgesprochenen Voraussetzungen (hidden and tacit assumptions), die den Kontext der jeweiligen Erkenntnisse, aber auch Methodologien bilden, nicht aus den Augen verliert, zumindest sollten Ceteris-paribus-Bedingungen mitgedacht, wenn nicht ausformuliert werden. Die Kontextbezogenheit des Wissens ist nicht nur den Perestroikans, sondern auch den Szientisten bekannt.

Es ist aufgrund der Wenn-dann-Struktur wissenschaftlicher Erkenntnisse sowie weiterer prinzipieller Grenzen wissenschaftlicher Forschung und deren Komplexität sicherlich erforderlich mit wissenstheoretischen Annahmen zu arbeiten (asserting, not demonstrating them), allerdings muss man sich der damit verbundenen wissenschaftstheoretischen Perspektivität der Ergebnisse bewusst sein. Fehlende Stringenz bei axiologischen, epistemischen, methodologischen und ontologischen Fragen führt nur zu mangelhaften Ergebnissen oder zu Verwirrungen.

Die Suche nach allgemeinen Bedingungen oder Kriterien des Wissens ist notwendig, um zwischen einem rationalen Wissen oder mit wissenschaftlichen Methodologien begründeten Wissen einerseits und andererseits Erkenntnissen aus anderen Quellen zu unterscheiden. Auch die Interpretivisten beginnen die Bedeutung von Kriterien des Wissens anzuerkennen (Steinke 2015 [2000], Schwartz-Shea 2014 [2006]).


4.3.3 Ebene der Ideale und Eigenschaften Seitenanfang

Auf dieser Ebene konnte nachgewiesen werden, dass Szientisten und Phronetiker in einem entscheidenden Punkt zusammenfinden: Wahrheit und Nützlichkeit werden als zwei Seiten einer Medaille angesehen. Die entsprechenden Stellen bei Bacon (1990 [1620]: 285-286, 4. Aphorismus, Teilband 2), Popper (1984 [1972]: 362, Kapitel 3.1.2) für die Szientisten und James (1977 [1907]: 35) für die Anhänger des amerikanischen Pragmatismus zeigen dies.

Die Szientisten versuchen mit wahren kausalen Aussagen über die politische Welt diese erstmals zu erkennen. Die Umkehrung von Kausalitäten ermöglicht dann sozialtechnologische Regulierungen zur Weltveränderung.

Die phronetischen Perestroikans versuchen unter Rückgriff auf den amerikanischen Pragmatismus erstmals nützliche Handlungsanweisungen aufzudecken und sind überzeugt, dass sie damit gleichzeitig auch die politische Welt erkannt hätten. Beide müssen eine Äquivalenz zwischen Wahrheit und Nützlichkeit voraussetzen.

Die Suche nach universellen Wahrheiten steht auf keinen Fall auf der Agenda der
Szientisten. Das Ideal der Wahrheit wurde zwar nicht aufgegeben, weil ohne Bivalenzen schlicht kein rationaler Diskurs geführt werden kann. Es ist aber klar, dass es nur hypothetisches Wissen geben kann.

Antiveritative Positionen überzeugen nicht. Auch Szientisten, insbesondere Rationalwahltheoretiker arbeiten mit einer Kohärenz- und nicht mit einer Korrespondenztheorie der Wahrheit, wie die Interpretivisten unterstellen.
 


4.3.4 Begriffsebene Seitenanfang

Begriffe sind sehr leistungsfähige Werkzeuge für die Wissenschaft. Hier wurde besonders hervorgehoben, dass es strukturelle Unterschiede zwischen empirischen (deskriptiven, explanativen und prognostischen) und praktischen (normativen, pragmatischen und technischen) Begriffen gibt.


4.3.5 Satzebene Seitenanfang

Auf der Satzebene wurden drei wichtige Erkenntnisse hervorgehoben:

  • A. Es gibt einen prinzipiellen Unterschied zwischen Aussagen (Behauptungssätzen) sowie Normen und Regeln (Forderungssätzen).
  • B. Es ist weiterhin wichtig, zwischen regulativen (präskriptiven, imperativistischen) und konstitutiven (nicht-imperativistischen) Normen und Regeln zu unterscheiden (Searle 1971 [1969]).
  • C. Jørgensen-Dilemma: Normative, präskriptive Sätze (Forderungssätze, z.B. Normen oder Regeln) können nicht wahrheitsfähig sein, darauf weist Jørgen Jørgensen (1937/1938) hin.

4.3.6 Theorieebene Seitenanfang

Es gibt analytische, empirische (deskriptive, explanative und prognostische) sowie praktische (normative, pragmatische und technische) Theorien. Theorien bilden die Inhalte einer Wissenschaft ab. Daher gibt es so viele Theorien, wie es Wissensformen und wissenschaftliche Operationen gibt (9. Schaubild und 10. Schaubild).

Theorien können aber auch eine methodologische Funktion haben. Dies ist dann der Fall, wenn man sie verwendet, um andere Theorien zu generieren, oder sie als Beweis für andere Theorien anführt.


4.3.7 Logikebene Seitenanfang

Auf der Logikebene wurde vor allem auf die prinzipiellen Unterschiede zwischen verschiedenen Logiktypen (Sein-Sollen und Tun-Sollen) eingegangen, wie sie insbesondere von Georg Henrik von Wright (1977a) herausgearbeitet wurden.


4.3.8 Argumentationsebene Seitenanfang

Das wichtigste Ergebnis der Argumentationsebene ist, dass die Szientisten das deduktiv-nomologische Modell, das in der Wissenschaftstheorie im 19. und 20. Jahrhundert so bedeutsam war, einfach nicht einmal mehr erwähnen (Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010a [2008]). Auf der Makroebene werden kausale Regularitäten mit Korrelations- und Regressionsmethoden sowie mit Experimenten, kausale Prozesse werden auf der Mikroebene mit qualitativ-mathematischen Methoden nachgewiesen. Dies ist deshalb der Fall, weil mittlerweile auch die prinzipiellen Grenzen der Deduktion genau wie die der Induktion bekannt sind.


4.3.9 Methodenebene: qualitativ-mathematische versus qualitativ-interpretative Methoden. Experimente versus Tests Seitenanfang

Das zentrale Missverständnis im „Methodenstreit“ auf der Methodenebene bildet die unterschiedliche Verwendung des Wortes „qualitativ“. Qualitative Methoden waren zuerst innerhalb der qualitativen Forschung angesiedelt. Es handelte sich dabei um Methoden, die auf hermeneutischen, dialektischen, sprachlich-interpretativen, phänomenologischen und strukturalistischen Argumentationsweisen beruhten und in entsprechenden Handbüchern zusammengefasst wurden (Denzin/Lincoln 1994, Creswell 2013 [1998], Flick/von Kardorff/Steinke 2015 [2000], Blatter/Janning/ Wagemann 2007). Seit den 70er Jahren entstanden vor allem in den USA qualitative Methoden (QCA, Prozessanalyse), die auf Logik und Mengenlehre beruhen und zur Ermittlung von kausalen Prozessen eingesetzt werden. Die Szientisten meinen, wenn sie von qualitativen Methoden sprechen, immer diese Methoden (Box-Steffensmeier/ Brady/Collier 2010a [2008], Goertz/Mahoney 2012). Um Missverständnisse zu vermeiden, ist es notwendig, mittlerweile immer noch einen Zusatz anzufügen: qualitativ-mathematische oder qualitativ-interpretative.

Ebenfalls auf dieser Ebene ist von Technikphilosophen eine Unterscheidung zwischen Experiment und Test eingeführt worden, die auch in der Politikwissenschaft wichtig ist: Im Experiment wird die Bewährung einer Theorie überprüft, im Test die Erfüllung einer Funktion (Kornwachs 2013: 92).


4.3.10 Ebene der methodischen Ansätze Seitenanfang

Auf der Ebene der methodischen Ansätze wurden die Möglichkeiten und Grenzen des Rationalwahlansatzes erläutert. Dies vor dem Hintergrund, dass die Szientisten die  normative Rationalwahltheorie (rational choice normative theory) als den besten praktischen Ansatz ansehen. Der Beitrag von Russel Hardin (2011 [2009]) wurde als einziger im Band „Political Methodology“ aufgenommen (Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010a [2008]).

Zwei Hauptkritikpunkte habe ich aufgeführt: erstens dass Hardin nicht zwischen positiver und normativer Theorie unterscheidet; zweitens dass Geltungsfragen in einer angeblich normativen Theorie als Annahmen sozusagen vor die Klammer gezogen wurden, obwohl er den Anspruch erhebt, eine normative Methodology vorzulegen. Liberale und utilitaristische Normen können mit dem Ansatz nicht legitimiert werden, weil sie vorausgesetzt werden.


4.4 Angewandte, problemorientierte oder praktische Methodologie bzw. Politikwissenschaft Seitenanfang

Im Folgenden geht es um die Möglichkeiten und Grenzen der von Szientisten und Phronetikern vertretenen praktischen Methodologien, des normativen Rationalwahltheorie (normative rational choice theory) sowie der angewandten Klugheit (applied phronesis). Weiterhin wird zusammengefasst, wie eine praktische (normative, pragmatische und technische) Methodologie eine angewandte Methodologie (normativer Rationalwahltheorie) und eine problemorientierte Methodologie (angewandte Klugheit) umfassen kann.


4.4.1 Sein-Sollen-Differenzierung Seitenanfang

Im Gegensatz zu den Szientisten verneinen die phronetischen Perestroikans unter Hinweis insbesondere auf den amerikanischen Pragmatismus und die Frankfurter Schule einen prinzipiellen Unterschied zwischen Sein und Sollen. Auch dies hat eine reduktionistische Methodologie zur Folge.

Die Unterscheidung zwischen Sein und Sollen ist deshalb gegeben, weil man für die Begründung von empirischem (deskriptivem, explanativem und prognostischem) Wissen auf der einen und praktischem (normativem, pragmatischem und technischem) Wissen auf der anderen Seite prinzipiell verschiedene Methodologien benötigt (2. Schaubild).

Ein technischer oder sozialtechnologischer Reduktionismus ist nun nicht nur beim Establishment, sondern auch bei den Interpretivisten vorherrschend. Dies gilt sowohl für argumentative (Fischer 2003) als auch für pragmatische (Schubert 2009) Politikfeldforscher sowie auch für die Governance-Forschung (Benz/Dose 2010 [2004]), die die Trennung zwischen Sein und Sollen bestreiten, auch sie sind der Auffassung, dass man mit Hilfe von Kausalanalysen technische Vorschläge begründen kann (8. Schaubild). Auch Bent Flyvbjerg, Todd Landman und Sanford Schram (Flyvbjerg/Landman/Schram 2012a) vertreten im Anschluss an Aristoteles mit ihrer „Applied Phronesis“ für eine „Real Social Science“ erstmals einen methodologischen Reduktionismus genau wie Wilhelm Hennis (1963), der zwar nicht die aristotelische Phronesis, aber die aristotelische Topik methodologisch überhöhte. Damit werden die Phronetiker ihren eigenen Idealen einer pluralistischen Politikwissenschaft nicht gerecht. Es kommt ja nicht nur darauf an, mit Klugheit verschiedene sozial-technologische Regulierungen praktisch umzusetzen, sondern auch diese mit einer praktischen Methodologie zu begründen.

Die in der Politikwissenschaft benutzten empirisch-analytischen Ansätze innerhalb von praktischen Diskursen (Rationalwahlansatz) sowie auch die von den Perestroikans verwendete angewandte Klugheit erfüllen nicht die Anforderungen von derzeitigen logisch-analytischen Argumentationsstandards.


4.4.2 Angewandte Methodologie einer angewandten Politikwissenschaft (Applied Science): normative Rationalwahltheorie (Normative Rational Choice Theory) Seitenanfang

Die Szientisten frönen keiner Vita contemplativa (Arendt 2006 [1958]), wie es die Kritik der problemorientierten Perestroikans uns nahelegt. Im Gegenteil: Die impliziten Voraussetzungen zeigen, dass auch innerhalb der platonisch-galileischen oder neoplatonischen Tradition die Vita activa (Arendt 2006 [1958]) die wahren Aufgaben der Wissenschaft bestimmt (Bacon 1990 [1620]: 173, 81. Aphorismus, Teilband 1, Goodin 2011b [2009]: 7).

Die Szientisten betonen, dass es einen prinzipiellen Unterschied zwischen Sein und Sollen und damit zwischen empirischer und angewandter Politikwissenschaft gibt. Aufgrund der Äquivalenz zwischen Kausalität (Erkennen, Theorie) und Handeln (Praxis) reiche eine reduktionistische Methodologie aus, sofern sie zur Identifizierung von Kausalitäten beitragen kann. Damit fallen Welterkenntnis und Weltveränderung quasi zusammen. Wenn man empirisch Kausalitäten ermittelt hat, kann man diese Erkenntnisse innerhalb z.B. einer angewandten Politikwissenschaft durch Umkehrung von Kausalsätzen in Handlungsanweisungen umwandeln.

Eine der wichtigsten methodologischen Erkenntnisse, die hier präzisiert und rekonstruiert wurden, lautet: Es gibt keine Äquivalenz zwischen Kausalität und Handlung. Daher können allein mit Kausalanalysen keine praktischen, ja nicht einmal technische Regulierungsvorschläge begründet werden, wie dies sowohl innerhalb der platonisch-galileischen als auch aristotelischen Tradition angenommen wird.

Die platonisch-galileische Tradition hat keine Methodologie hervorgebracht, mit deren Hilfe man legitimatorische Diskurse führen kann. Nicht nur die von Weber erarbeiteten prinzipiellen Grenzen empirischer Methodologie gelten nach wie vor, mehr noch, die Technologiephilosophie hat begründet, warum nicht einmal ein technischer Diskurs mittels empirischer Methodologie allein notwendig ist, und zwar weil man auch in diesen Diskursen präskiptive Elemente (Normierungen und Regulierungen) braucht.

Der normative Rationalwahlansatz ermöglicht zwar die Integration empirischen Wissens in einen technischen Diskurs, die normativen Annahmen (in der Regel liberale und utilitaristische Normen) müssen aber anderweitig begründet werden.


4.4.3 Problemorientierte (Problem-driven, Problem-based) Methodologie: angewandte Klugheit (Applied Phronesis) als Methodologie einer phronetischen Politikwissenschaft (Phronetic Political Science) Seitenanfang

Poppers und Webers Ansicht, dass man mit Umkehrungen von Kausalsätzen sozialtechnologische Regulierungen begründen kann, wird heute nicht nur in der platonisch-galileischen, sondern auch in der aristotelischen Tradition geteilt. Auch im amerikanischen Pragmatismus fallen Nützlichkeit und Wahrheit zusammen (James 1977 [1907]).

Trotz des Rückgriffs auf Aristoteles gelingt es den phronetischen Perestroikans nicht, die Leerstellen des praktischen Diskurses zu überwinden (7. Schaubild sowie 8. Schaubild). Die Reduktion von praktischen Fragestellungen auf die Handlungsfähigkeit, die Könnerschaft von Subjekten reicht nicht aus oder ist eine reduktionistische Engführung genau wie die szientistische Reduktion des Praktischen auf das Technische.

Seit der Antike werden bestehende Normierungen und Regulierungen innerhalb der praktischen Philosophie und der Politischen Philosophie in Frage gestellt sowie Alternativen formuliert. Geltungsansprüche müssen sowohl legitimiert als auch weiterentwickelt werden. Diese einfach nur zu übernehmen, wie die Phronetiker meinen, wird dem Anspruch praktischer Wissenschaften nicht gerecht. Angewandte Klugheit geht in die richtige Richtung, sie reicht aber nicht aus, da sie nicht einmal an die Komplexität der aristotelischen praktischen Philosophie herankommt. Mehr noch die Phronetiker erreichen methodologisch nicht einmal das von Aristoteles in der praktischen Philosophie etablierte Niveau.


4.4.4 Praktische (normative, pragmatische und technische) Methodologie einer praktischen Politikwissenschaft Seitenanfang

In dieser Abhandlung wurde für eine praktische Politikwissenschaft plädiert. Mit Hilfe einer empirischen Methodologie kann man aber kein praktisches (normatives, pragmatisches und technisches) Wissen generieren. Daher ist eine methodologische Erweiterung um eine praktische (normative, pragmatische und technische) Methodologie nötig; diese zu rekonstruieren, zu präzisieren und weiterzuentwickeln ist ein Hauptziel meiner Arbeit (Lauer 2013 und 1997). Mit Hilfe einer praktischen Methodologie kann man erstens innerhalb von normativen Wertdiskursen Handlungsmaximen (Verfassungsnormen, ethisch-moralische Normen), zweitens innerhalb von pragmatischen Zieldiskursen Handlungsstrategien (Regeln, Ziele und Zwecke) und drittens innerhalb von technischen Mitteldiskursen Handlungsinstrumente (technische Regulierungen) begründen (9. Schaubild und 10. Schaubild).

Eine praktische (normative, pragmatische und technische) Methodologie unterscheidet sich prinzipiell von einer empirischen (deskriptiven, explanativen und prognostischen) Methodologie. Auch dies versuche ich klar herauszuarbeiten. Daher ist es auch unangebracht weniger Stringenz bei empirischen Fragen anzustreben, weil sich dies auf praktische Fragestellungen nicht positiv auswirken kann, sondern nur negativ, weil es schlechtere empirische Untersuchungen gibt, auf gute empirische Beschreibungen und Erklärungen ist man in praktischen Diskursen aber angewiesen.


4.5 Autorität (Stringenz und Wissenschaftlichkeit) sowie Relevanz der Politikwissenschaft Seitenanfang

Der Unterschied zwischen Ideologien, Utopien und Stammtischparolen auf der einen Seite und wissenschaftlich begründeten Theorien auf der anderen Seite liegt nicht im Inhalt (der kann gleich sein), sondern in der methodischen Vorgehensweise. Zu den Werkzeugen (Organon) eines Wissenschaftlers zählen: Begriffe, Sätze, Theorien, Logiken, Argumentationen, methodische Ansätze und Methoden genauso wie die axiologischen, epistemischen, methodologischen und ontologischen Grundlagen.

Das gleichzeitige Streben nach Wissenschaftlichkeit und praktischer Relevanz hat John Gunnell zufolge zu einem fundamentalen Paradox zwischen Wissenschaftlichkeit und Relevanz geführt: „This search fort the authority of science, however, paradoxically distanced the social sciences, physically and conceptually, from the very world that they wished to influence, and, at the same time, they became bound to the vagaries of transformations in the images of science to which they were beholden“ (Gunnell 2015a: 414). Im Folgenden wird zusammengefasst, warum zwischen Wissenschaftlichkeit und Relevanz kein Paradoxon besteht. Im Gegenteil: Die Relevanz der Wissenschaft hängt von der Stringenz wissenschaftlicher Arbeit ab.


4.5.1 Methodologie und Wissenschaftlichkeit: Bedeutung der Stringenz Seitenanfang

Das vorrangige Ziel der Methodologie ist, für die eigenen Untersuchungen die Autorität der Wissenschaft in Anspruch zu nehmen. Die Politikwissenschaft sollte den Szientisten zufolge Teil der Sozialwissenschaften sein, die Protagonisten selber verstehen sich unbedingt als disziplinierte Wissenschaftler (disciplined political scientists). Sie sind vielleicht etwas neidisch auf die Gelehrten oder Theoretiker innerhalb der Geistes- und Kulturwissenschaften (Humanities), die ihre Ergebnisse teilweise in mehreren klassischen und modernen Sprachen wohlformuliert wiedergeben können, dabei auch immer ein passendes Zitat von Homer, Cicero, Shakespeare, von Goethe etc. parat haben. Leider das Ganze nur auf Feuilletonniveau, die Autorität der Wissenschaft könnten sie nicht in Anspruch nehmen, weil eine entsprechende, wissenschaftliche Methodologie fehlt, es sich damit nur um subjektive Einsichten handelt, denen jedwede Objektivität fehlt. Diese Absetzbewegung der disziplinierten Politikwissenschaftler gegenüber den undisziplinierten politischen Theoretikern (undisciplined political theorists), die seit dem Entstehen der Politikwissenschaft die methodologische Entwicklung entscheidend geprägt hat, prägt hundert Jahre nach Entstehung der Politikwissenschaft in den USA auch heute noch die Einstellung von vielen Wissenschaftlern.

Wissenschaft ist ein sich ständig verbesserndes Unternehmen oder work in progress. Dies gilt nicht nur für die Inhalte oder das inhaltliche Wissen, sondern auch für die Methodologie oder das formale Wissen. Eine ständige Verbesserung der Methodologie hat notwendigerweise eine immer größere Stringenz zur Folge.

Methodologische Stringenz kann nicht gegen wissenschaftliche Relevanz ausgespielt werden. Im Gegenteil: Die Politikwissenschaft steht in der öffentlichen Wahrnehmung in direkter Konkurrenz zu anderen Wissenschaften. Wenn sie gegenüber den Wirtschaftswissenschaften, die etwa bei politischen Sozial- oder Wirtschaftsfragen weitaus präsenter und einflussreicher in der Öffentlichkeit sind, Boden gutmachen will, muss sie bessere empirisch-explanative und empirisch-prognostische Analysen, aber auch empirische und technische Rationalwahlanalysen liefern. Bei der Beschreibung oder Interpretation der politischen Realität steht sie in direkter Konkurrenz vor allem mit der Soziologie. Auf Dauer spielt die bessere, stringentere Methodologie neben anderen Ressourcen wie z.B. Humanressourcen (Größe der Institute) und Publikationsmöglichkeiten eine entscheidende Rolle.

Die Perestroikans haben in einem Punkt Recht, und zwar wenn sie das amerikanische szientistische Establishment für ihr enges Wissenschaftsverständnis („narrow conceptionalization of what […] good ‘scientific’ work“ [is], Monroe 2015: 423) kritisieren. Wenn man die sprachlich-interpretative Forschungsmethodologie weglässt, wird das Fach extrem geschwächt. Nur mit einer sprachlich-interpretativen Forschungsmethodologie können politische Texte (Verfassungen, Parteiprogramme, Bürgerforderungen etc.) verstanden und kritisiert sowie Veränderungen begründet werden. Diese empirische (deskriptive, explanative und prognostische) Methodologie muss, wie ich gezeigt habe, um eine praktische Methodologie ergänzt werden.


4.5.2 Relevanz politologischer Forschung Seitenanfang

A. Politische und öffentliche Relevanz

Das Verhältnis zwischen Politikwissenschaft und praktischer Politik ist ein großer Fragenkomplex, genauer geht es um die Relevanz der politikwissenschaftlichen Forschung für das tägliche politische Geschäft.

Während die (Neo)Positivisten auf eine stringente Methodologie, die allein die Wissenschaftlichkeit garantieren kann, Wert legen, wird diese Strategie von den Perestroikans als ein Scholastizismus gebrandmarkt (scholasticism, methodologism, method-driven, theory-driven sind die wichtigsten Begriffe dieser Kritik). Gefordert wird eine problemorientierte Wissenschaft (problem-driven, problem-based), die vor allem auf Substanz (substantive research) achtet und auch ein aktives Involvieren der Forschenden beinhaltet (action and relevance). Damit erhofft man sich mehr Gehör in der Öffentlichkeit und im Endeffekt mehr Einfluss, sprich mehr Relevanz. Hinzu kommt die Forderung nach Diversität bzw. Pluralismus in Fragen der Methodologie.

Methodologie und Stringenz sind unabdingbar, sonst verliert die Politikwissenschaft noch mehr an Bedeutung im Vergleich zur Ökonomie. Die platonisch-galileische Tradition ist extrem wichtig, sie reicht aber aufgrund der verschiedenen Reduktionismen (kausaler, empirischer und methodologischer Reduktionismus) nicht aus. Komplementär sind noch andere Methodologien notwendig.

Ignorieren von Verstehen und Beschreiben ist fatal, ohne eine qualitativ-interpretative Methodologie kann man die politischen Phänomene wie Demonstration, Putsch oder die vielfältigen politischen Regulierungen (Verfassungen, Gesetze, Verordnungen etc.) nicht beschreiben.

Heute im Informationszeitalter des 21. Jahrhunderts, in Zeiten von Google, Facebook, NSA etc., ist es ja geradezu weltfremd, der logisch-mathematischen Forschungsmethodologie Irrelevanz zu unterstellen. Im Gegenteil, die Dominanz dieser Methodologie führt zu unabsehbaren Kollateralschäden (Schirrmacher 2013). Daher sollte eher auf die Grenzen dieser Methodologie hingewiesen und weiterhin die Bedeutung einer komplementären sprachlich-interpretativen Forschungsmethodologie erläutert werden.

Auch die Relevanz der deutschen Politikwissenschaft wird von einigen Vertretern genauso kritisch gesehen. So bezeichnen Frank Decker und Eckhard Jesse die deutsche Politikwissenschaft als „Fach ohne Ausstrahlung“: „Statt die großen Fragen der Zeit sprachlich luzide und mit klarem Urteil zu sezieren, dominiert in der heutigen Zunft methodisches und theoretisches ‚l’art pour l’art‘“ (Decker/Jesse 2016). Auch hier wird so getan, als ob es einen Gegensatz zwischen einer stringenten methodologischen Vorgehensweise und dem Generieren von relevantem Wissen einerseits und dem Bestreben, „Fragen der Zeit sprachlich luzide und mit klarem Urteil“ (Decker/Jesse 2016) zu ermitteln, andererseits gebe.

B. Die Bedeutung des Methodologiediskurses für die Stellung der
Politikwissenschaft innerhalb des Wissenschaftssystems

Die Relevanz eines Faches im Zusammenspiel aller Wissenschaften ist dadurch
gegeben, dass Methodologien, die in diesem Fach erarbeitet wurden, von anderen
Fächern übernommen wurden. Anders ausgedrückt: Die methodologische Innovationskraft eines Faches entscheidet hauptsächlich über das Ansehen und die Relevanz des Faches innerhalb des Wissenschaftssystems.

Auch bei den Perestroikans ist wie bei den Interpretivisten eine Kritik an der Methodologie der Szientisten gegeben, die sich vor allem an der Relevanz orientiert. Dabei wird den dezidiert methodisch vorgehenden Forschern vorgeworfen, dass sie den Kontakt zur Wirklichkeit verloren hätten, vor allem mangelnde Substanz und technokratischer Praxisbezug werden in den Vordergrund gestellt: „Substanz muß wichtiger bleiben als Forschungstechnik. Es ist besser, vage als präzis, aber nicht relevant zu sein […]. Der technokratische Praxisbezug muß durch die Verantwort-lichkeit des Intellektuellen und durch direktes politisches Engagement und kreative Spekulation abgelöst werden. Die eingetretene Professionalisierung des Faches, die in der Konsolidierungsphase unerlässlich war, soll einer intellektuell-humanistischen Auffassung der Rolle des Politikwissenschaftlers in der Gesellschaft weichen, was die Politisierung des Faches notwendigerweise fördert“ (von Beyme 2000 [1972]: 118).

Die Politisierung des Faches hat negative Auswirkungen auf die Qualität des
Faches vor allem, weil sie Forscher dazu verleitet, im Revolutionsmodus andere Sicht- und Vorgehensweisen zu dämonisieren. Sie kann aber auch positive Auswirkungen haben, sofern dies zur Verbesserung der eigenen Methodologie und zu einer besseren handwerklichen Vorgehensweise beiträgt. Wettbewerb, sofern er meritokratisch angetrieben wird, führt immer zum Fortschritt.


4.5.3 Pluralistischer Habitus und reduktionistische Praktiken Seitenanfang

Pluralismus ist ein Wert, den heute kaum einer in Frage stellt, auch wenn man, wie die kausalen und phronetischen Reduktionisten, genau das Gegenteil praktiziert. Kurz gesagt: Die Kontrahenten, Szientisten wie Phronetiker, legen einen pluralistischen Habitus an den Tag, auch wenn sie täglich eine reduktionistische Agenda verfolgen.


4.5.4 Methodologischer Glaubenskrieg: Ausdruck einer Identitätskrise oder Zeichen von Vitalität? Seitenanfang

John Gunnell, der in seinem Beitrag „Pluralism and the Fate of Perestroika: A Historical Reflection“ (Gunnell 2015a) die Perestroika-Bewegung einer historischen Reflexion unterzieht, sieht den „Methodenstreit“ als Ausdruck einer immerwährenden Identitätskrise des Faches: „the perennial identity crises that have marked the evolution of political science.“ […] Perestroika „was basically a reverberation of longstanding problems about the relationship between political science and politics and about the tensions between the search, on the one hand, for intellectual unity and, on the other hand, the commitments to both disciplinary and political pluralism“ (Gunnell 201a5: 408).

Methodologische Auseinandersetzungen sind, aufgrund der zentralen Bedeutung, die der Methodologie zukommt, eher ein Zeichen für die Vitalität eines wissenschaftlichen Faches. Die Weiterentwicklung jedes Faches hängt zentral davon ab, inwieweit es zu methodologischen Erneuerungen und Innovationen kommt. Dabei sind Glaubenskriege kontraproduktiv, weil Glaubenskrieger zum Aufgeben von bestehenden methodologischen Traditionen auffordern. Der methodologische Reduktionismus der platonisch-galileischen Tradition hat aufgrund der damit einhergehenden Differenzierung und Spezialisierung zu enormen methodologischen Fortschritten zur Ermittlung der Kausalität beigetragen. Die Ignoranz gegenüber anderen Methodologien von Seiten derjenigen, die die Bedeutung der Methodologie sogar überhöhen („The content is the method“, King/Keohane/Verba 1994: 9), ist hingegen für das Fach als Ganzes kontraproduktiv.

Das Establishment hat auf die Caucus-Revolte mit einer „Umarmungsstrategie“ reagiert, und zwar dadurch, dass es „die Einrichtung separater Arbeitsgruppen auf den APSA-Tagungen förderte, ein eigenes Organ, „PS“, gründete, das fast ausschließlich berufsständischen Problemen und Auseinandersetzungen gewidmet ist, und eine Reihe von Satzungsänderungen einleitete“ (Falter 1982: 60). Auch auf die Herausforderungen durch die Perestroikans (Hochschild 2005) hat man u.a. mit der Gründung einer neuen Zeitschrift innerhalb der APSA reagiert und zwar den Perspective on Politics im Jahr 2003. Diese Vorgehensweise (Easton-Methode), den Glaubenskriegern jeweils eine eigene Spielwiese oder eine eigene Zeitschrift zu bieten, reicht nicht aus. Im Gegenteil, dies begünstigt nur die Segregation und führt dazu, dass man gar nicht mehr mitbekommt, welche methodologischen Fortschritte anderswo gemacht werden. So konnte hier gezeigt werden, dass die Perestroikans die methodologischen Fortschritte am Ende des 20. Jahrhunderts innerhalb der platonisch-galileischen Tradition schlicht nicht mitbekommen haben und teilweise einen Forschungsstand kritisierten, der obsolet war. Die Perestroikans haben sich wenigstens mit der Methodologie, wenn auch fehlerhaft, auseinandergesetzt. Umgekehrt dominiert Ignoranz, die vor allem dadurch sichtbar wird, dass man sprachlich-interpretative Forschungsmethodologie in einem Band, der angibt, einen Überblick über die gesamte politikwissenschaftliche Methodologie zu geben, gar nicht abhandelt. Für die galileische Tradition gibt es, wie oben gezeigt, ein Buch, „The Oxford Handbook of Political Methodology“ (Box-Steffensmeier/Brady/Collier, 2010a [2008]), in dem hervorragend über die Möglichkeiten und Grenzen einer logisch-mathematischen Forschungsmethodologie informiert wird. Es bietet aber keinen Überblick über die gesamte politikwissenschaftliche Methodologie, wie der Titel andeutet.

Es fehlen noch zwei weitere Teilbände, einer über die sprachlich-interpretative Methodologie, so wie es einen für die Soziologie schon gibt (Flick/von Kardorff/Steinke 2015 [2000] und Denzin/Lincoln 1994). Weiterhin fehlt ein Teilband über die praktische (normative, pragmatische und technische) Methodologie (Lauer 2013 und 1997). Die von den Perestroikans angebotene angewandte Phronesis erreicht nicht einmal den Forschungsstand des aristotelischen Organons, geschweige denn den gegenwärtigen Stand des methodologischen Diskurses.

Gefragt ist hingegen ein Gemeinschaftswerk aller methodologischen Traditionen innerhalb des Faches, das sich am aristotelischen Organon orientiert und im aristotelischen Geiste einen Überblick über die gegenwärtigen Möglichkeiten und Grenzen politikwissenschaftlicher Methodologie herausarbeitet. Wie das möglich sein könnte, werde ich im nächsten Kapitel skizzieren.


4.6 Komplementarität statt Revolutionsk(r)ampf: Komplementarität zwischen verschiedenen Traditionen und Forschungsprogrammen Seitenanfang

In der Antike wurde der Weg vom Mythos zum Logos erfolgreich bestritten, die dabei verwendeten wissenschaftlichen Werkzeuge wurden vorbildlich im aristotelischen Organon festgehalten (Aristoteles 1920 [4. Jahrhundert vor Christus]).

Die größte methodologische Innovation seit der Antike war die Entstehung der galileischen Tradition. Mehrere methodologische Forschungsprogramme (Kausaldenken, quantitative Methoden, Modelldenken, quantitative sowie qualitativ-mathematische Methoden, Experimente und Simulationen) konnten entwickelt werden und trugen zum enormen Erfolg der Wissenschaften bei, so dass die Verwissenschaftlichung der Welt seit Jahrzehnten eine Tatsache ist.

Die platonisch-galileische Tradition konnte die aristotelische Tradition in den Sozialwissenschaften und damit auch in der Politikwissenschaft nicht verdrängen, im Gegenteil, es entstanden parallel dazu innerhalb der aristotelischen Tradition auch verschiedene methodologische Forschungsprogramme (Phänomenologie, Sinnverstehen, Hermeneutik, qualitativ-interpretative Methoden). Die phronetischen Perestroikans haben in einem Punkt Recht, und zwar wenn sie das szientistische Establishment für ihr enges Wissenschaftsverständnis kritisieren („artificial and narrow conceptionalization of what is good „scientific“ work“, Monroe 2015: 423). Wenn man die geistes- und kulturwissenschaftliche oder humanistische Forschungsperspektive, die Textanalysen und Sinnverstehen sowie eine Phänomenologie ermöglichen, weglässt, wird das Fach extrem geschwächt. Nur mit einer sprachlich-interpretativen Forschungsmethodologie können politische Texte (Verfassungen, Parteiprogramme, Bürgerforderungen etc.) verstanden und kritisiert werden. Daher sind beide Methodologien, eine empirisch-deskriptive sowie eine sprachlich-interpretative Forschungsmethodologie, unentbehrlich für die Politikwissenschaft.

Ein Glaubenskrieg ist sachlich schon allein deswegen unberechtigt, weil es zwischen Szientisten und Perestroikans sowie Interpretivisten keine unüberbrückbare Diskontinuität gibt oder ein Zusammenbruch der wissenschaftlichen Kommunikation feststellbar ist, d.h. es keine allgemeine Inkommensurabilität zwischen der platonisch-galileischen und der aristotelischen Tradition gibt. Die agonale Steigerung auf eine am Wettkampf ausgerichtete Auseinandersetzung, die nur einen Sieger kennt und damit auf die Zerstörung der Gegenseite ausgerichtet ist, geht viel zu weit. Sie zerstört eine wissenschaftliche Kultur, die zwar von Wettstreit und Konkurrenz belebt wird, aber nicht notwendigerweise die Gegenseite ausschließt. Eine antagonistische Sichtweise würde die Möglichkeit einer komplementären Vorgehensweise verschütten. Nur die Komplementarität der Methodologien würde ein Miteinander ermöglichen nach dem Motto: Getrennt kämpfen und vereint siegen.

In Umwandlung eines bekannten Whitehead-Bonmots („Die sicherste allgemeine Charakterisierung der philosophischen Tradition Europas lautet, daß sie aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon besteht“ (Whitehead 1979 [1929]: 91)) könnte man nun fragen: Ist die allgemeine Charakterisierung der methodologischen Traditionen nur eine Fußnote zu Platon und Aristoteles? Die Unterscheidung in platonisch-galileische (neoplatonische) und aristotelische Tradition würde dies nahelegen. Erstens muss man festhalten, dass diese Traditionen nicht gegeneinander ausgespielt werden können, da jede ihre Berechtigung hat und auch nicht auf eine andere reduziert werden kann. Zweitens wurden auch keine Forschungsprogramme innerhalb einer Tradition obsolet, d.h. aufgrund von revolutionären Erneuerungen aussortiert. Forschungsprogramme werden ständig verbessert. Weiterhin kommen neue hinzu. Dynamik und Innovation ist auf platonischen und aristotelischen Fundament möglich. Wichtiger ist daher, die Komplementarität von Traditionen und Forschungsprogrammen aufzuzeigen (Kapitel 5).

Eine empirische (deskriptive, explanative und prognostische), wertfreie Politikwissenschaft ist nicht nur möglich, sondern bietet die besten Voraussetzungen, die politische Realität zu erkennen. Erforderlich ist neben der Ermittlung von Kausalitäten auch die Beschreibung von Bedeutungen und Sinnzusammenhängen, daher ist sowohl die logisch-mathematische als auch die sprachlich-interpretative Forschungsmethodologie notwendig. Weber hat für beide Methodologien plädiert, im Gegensatz zu der Mehrheit der heutigen quantitativen Forscher, die zwar die Werturteilsfreiheit zu Recht verteidigen, aber die Bedeutung der sprachlich-interpretativen Forschungsmethodologie für die Erkenntnis unterschätzen oder diese für entbehrlich halten. Die Kritik der Perestroikans am szientistischen Establishment teile ich nur, wenn es darum geht die sprachlich-interpretative Forschungsmethodologie als komplementäre und nicht als alternative Methodologie anzuerkennen.

Wie kann nun der Glaubenskrieg überwunden werden? Weder Revolutionen, wie die Szientisten meinen, noch Wenden, wie die Interpretivisten fordern, helfen weiter: Evolution und Innovation statt Revolution, innovative Weiterentwicklung statt Wende ist gefragt. Die existierenden Methodologien müssen erst erläutert, expliziert, präzisiert und rekonstruiert werden: Das Erbe muss zuerst erarbeitet werden („Was du ererbt von deinen Vätern hast,/Erwirb es, um es zu besitzen“ (von Goethe 1978 [1808]: 171 [682-683])), bevor es reformiert und innovativ weiterentwickelt werden kann. Es gibt keinen archimedischen Punkt, sondern nur eine Vielzahl von bewährten Methodologien und Perspektiven. Dies kann am besten dann realisiert werden, wenn die Komplexität der Aufgaben auch adäquat auf mehreren Ebenen erörtert wird. Die Pflege der methodologischen Traditionen steht nicht im Gegensatz zu Innovationen und Weiterentwicklungen, verhindert also nicht wissenschaftliche Dynamik. Beides ist notwendig, daher mein Motto „Tradition und Fortschritt verbinden“.

Hier geht es zum 5. Kapitel:
Ausblick. Überblick oder logische Geographie
politikwissenschaftlicher (empirischer und praktischer) Methodologie


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Einleitung 2. Kapitel 3. Kapitel Zusammenfassung Ausblick

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Quelle: lauer.biz/methodenstreit/index.htm
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